Mittwoch, 7. Februar 2007 – Es gilt das gesprochene Wort.
Herr Statthalter, liebe Ratskolleginnen und –kollegen, Frau Regierungsratspräsidentin, liebe Mitglieder des Regierungsrates, liebe Gäste auf der Tribüne,
im Januar haben Sie mich zur Grossratspräsidentin gewählt: Hier sitze ich nun also, ganz zuoberst, und möchte mich als erstes – auch im Namen meiner Fraktion – für Ihr Vertrauen bedanken.
Ich freue mich auf diese Herausforderung und versichere Ihnen, diese bedeutende und ehrenvolle Aufgabe mit Sorgfalt, viel Energie und Enthusiasmus nach bestem Wissen und vorhandenen Kräften wahrzunehmen. Ihnen allen stehe ich selbstverständlich im Rahmen der Leitung unserer Ratsarbeit als Gesprächspartnerin stets zur Verfügung.
Lassen Sie uns das zweite Amtsjahr seit Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahre 2006 gemeinsam mit der notwendigen Fairness und Gelassenheit angehen.
Als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollen Sie sich engagiert für Ihre Anliegen einsetzen und politische Differenzen nicht unter den Teppich kehren, der Umgang miteinander sollte jedoch immer von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet sein.
An dieser Stelle möchte ich meinem Vorgänger Andreas Burckhardt, danken. Er hat die Geschäfte des Grossen Rates im letzten Jahr juristisch versiert, äusserst eloquent und souverän geführt. Er hat die Ratsmitglieder immer wieder einmal auf die hausinternen Gepflogenheiten aufmerksam gemacht – auch machen müssen – manchmal streng, meist humorvoll.
Besonders beeindruckt hat mich neben seiner Ratsführung, wie Andreas Burckhardt unser Parlament und seine Arbeit in der Öffentlichkeit dargestellt hat – inhaltlich, aber auch rein vom Umfang seiner öffentlichen Präsenz her gesehen. Gerade an Wirtschaftsanlässen hat er unermüdlich auf die Wichtigkeit der gegenseitigen Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik hingewiesen.
Unsere persönliche Zusammenarbeit war von einer kollegialen, offenen und freundschaftlichen Atmosphäre geprägt. So werde ich gern an mein Amtsjahr als Statthalterin zurückdenken.
Mein grösstes Dankeschön geht – auch vorausschauend – an meinen Lebenspartner Klaus Hubmann, der mich stets mit grossem Verständnis und viel Geduld unterstützt hat und bestimmt auch weiter unterstützen wird, so dass ich nun auch mein Engagement als Präsidentin wahrnehmen kann.
Gut. In meiner nun folgenden Antrittsrede möchte ich weniger auf konkrete lokale, baslerische Verhältnisse eingehen. Vielmehr möchte ich mit Ihnen ein paar Gedanken über den Hintergrund unserer parlamentarischen Arbeit aus einer globaleren Perspektive teilen. In den letzten Monaten wurden drei sehr unterschiedliche Berichte zu Stadt, Klima und Staatskundewissen veröffentlicht, die uns unter dem Aspekt «Urbanität und Partizipation» sehr zu denken geben sollten: Es handelt sich um den UNO-Habitat-Bericht «State of the World’s Cities»(1), den aktuellen Klimabericht der Vereinten Nationen und eine Studie über das politische Wissen von Schweizer Jugendlichen.
Laut dem Städtebericht der UNO wird im Verlauf dieses Jahres bereits jeder zweite Mensch in einer Stadt leben. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, mussten die Forscherinnen und Forscher sogar einen neuen Begriff erfinden: Den, der so genannten Über-Stadt, englisch «Metacity». In den Siebzigerjahren hatte die UNO noch den Begriff Megacity eingeführt. Dieser stand zunächst für Städte mit mehr als fünf, dann mehr als acht, heute für Städte mit über zehn Millionen Einwohnern. Zu den Metacities hingegen zählen nur Städte mit mehr als 20 Millionen Einwohnern – das sind dreimal so viele Menschen, wie in der Schweiz insgesamt wohnen.
Die Stadt ist die Lebensform der Moderne. Landluft macht eigen, Stadtluft macht frei, lautet ein geflügeltes Wort – bereits im europäischen Mittelalter waren die Zusammenballungen Keimzellen des Fortschritts. Hier sprossen Handel, Kultur, Handwerk und Technologie, in den Städten emanzipierte sich das Bürgertum von der Unterdrückung durch Klerus und Adel. Gleichwohl blieb die Stadt als Siedlungsform bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein Minderheitenphänomen. Dies ändert sich nun im Jahre 2007. Von diesem Jahr an lebt eine Mehrheit der Menschen in Städten.
«Die Globalisierung macht aus dem 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Städte», schreibt die verantwortliche UNO-Direktorin Anna Tibaijuka. Neu im Habitat-Bericht ist deshalb auch: Landflucht und Verstädterung, die umwelt- und entwicklungspolitisch früher als Wurzeln allen Übels galten, werden heute wertfrei als unabwendbar hingenommen.(2) Diese Entwicklung zu stoppen oder gar umzukehren, ist kein Thema mehr. Wurde der urbane Raum unter hygienischen Aspekten oft als problematisch und gar gefährlich verschrien, verspricht er heute grössere Nachhaltigkeit als der suburbane, pseudo-ländliche Raum, der von nicht enden wollenden bebauten Flächen geprägt ist. Angesichts der Veröffentlichung des aktuellen Klimaberichtes der UNO (3) über den schlechten Zustand des Weltklimas von letzter Woche gibt es zumindest einen wesentlichen Pluspunkt zu verzeichnen. So könnte, unter dem Aspekt der besseren Ressourcensteuerung, die zunehmende Urbanisierung ein möglicher Lichtblick sein.
Fragen der Stadt- und Siedlungsentwicklung haben eine herausragende entwicklungspolitische Bedeutung. Städte sind Motoren der Entwicklung. Knapp 60% des Bruttosozialprodukts und 80% des wirtschaftlichen Wachstums werden in Städten erzeugt. In einer zunehmend städtischen Welt besteht eine der zentralen politischen Aufgaben darin, die in der Stadtentwicklung liegenden Potenziale zu fördern und gleichzeitig den wachsenden sozialen Spannungen, Umweltproblemen und Herausforderungen der unzureichenden Infrastrukturausstattung zu begegnen.
Auch in unserer Region hat sich einiges hinsichtlich der Siedlungsweise verändert. Das ETH-Studio Basel spricht dabei von Basel als Teil einer Metropolitanregion.(4) Metopolitanregionen sind städtische Ballungszentren mit einer starken internationalen Vernetzung und Ausstrahlung. Sie werden daran gemessen, wie stark sie globale Netzwerke im Bereich Handel und Produktion, Finanzströme, kulturelle und soziale Netzwerke bündeln. Charakteristische Merkmale sind ihre hohe ökonomische, kulturelle und soziale Komplexität. Diese Netzwerke sind typischerweise grenzüberschreitend – im Falle von Basel und Genf überschreiten sie nicht nur kantonale, sondern auch nationale Grenzen. In der Schweiz zeichnen sich alle drei Metropolitanregionen durch ausgeprägte ökonomische Spezialisierungen aus: Zürich durch den Finanzplatz, Genf beherbergt die Luxusgüterproduktion, während die Metropolitanregion Basel ein starkes chemisch-pharmazeutisches – Neudeutsch: «Lifesciences» – Standbein aufweist.
Gemessen an Topografie, Siedlung, Wirtschaft, Pendler- und Urbanisationszonen sowie Regionalverkehr muss der Raum Basel-Mulhouse-Strasbourg bis nach Frankfurt als polyzentrischer urbaner Grossraum beschrieben werden. Trotz politischer, kultureller und geologischer Unterschiede bilden die übergreifenden Netzwerke eine Einheit. Staatsgrenzen sind dabei nicht relevant. Zwischen Basel und Mulhouse ist bereits eine durchgängig suburbane Zone entstanden, die sich in Richtung Colmar und Freiburg entwickelt.
Was fehlt, ist das verbindende politische Netzwerk, die gleichberechtigte demokratische Partizipation und Mitsprache der Menschen in diesem Gebiet. Drei Länder, drei verschiedene politische Systeme – Sie kennen es. Gerade in Fragen der Stadtentwicklung zeigen sich auch die Schwächen solcher primär national (oder auch kantonal und kommunal) ausgerichteter Strukturen. Städte lassen sich zwar nicht mehr planen wie zuvor, besonders nicht in staatspolitisch zerstückelten Gebieten wie der oberrheinischen Metropolitanregion. Aber es ist Aufgabe der Politik, diese Realitäten wieder neu zu verknüpfen und demokratische Partizipation neu zu organisieren.
Städte sind die Orte der Differenz. Städte, so der Soziologe Simmel, ziehen Differenzen sogar an – die Differenz der Lebensstile, der unterschiedlichen Lebensziele und der unterschiedlichen sozio-ökonomischen Positionen. Die Anonymität verspricht Freiheit und zieht vor allem Menschen an, die sich auf der Suche nach neuen Möglichkeiten befinden. Die Stadt ist gleichzeitig indifferent gegenüber der Differenz. Die Differenz ist die Normalität. Urbanität ist Vielfalt, Freiheit, gesicherte Rechte, Zugang zu Ressourcen.
Von grosser Bedeutung für die Prosperität von Städten ist, dass sich die unterschiedlichen Kulturen, Mentalitäten nicht gegeneinander abkapseln, sondern sich gegenseitig anerkennen, interagieren und auf diese Weise kreativ und erfolgreich werden. Innovative und kreative Berufszweige machen bezeichnenderweise in Stadtgebieten um die 30 Prozent aus.
Akzeptieren, dass man in einer plurikulturellen Gesellschaft lebt, in welcher Differenz die Norm ist, heisst aber auch, einen Weg zu finden, wie mit Differenzen oder unterschiedlichen Ressourcen umgegangen werden kann.
Die Teilhabe an demokratischen Prozessen ist ein unverzichtbares Element liberaler Gesellschaften. Wichtig ist dabei, dass alle Anwesenden miteinbezogen werden. Folgende Entwicklungen sind dazu allerdings gegenläufig: Die Migrationsbevölkerung wird neuerdings in «erwünscht» und «unerwünscht» unterteilt. Auf der einen Seite werden Menschen mit ausreichend sozialem, ökonomischem und symbolischem Kapital aufgefordert zuzuwandern. Ihnen wird die Integrationsfrage nicht gestellt. Auf der anderen, der unerwünschten Seite, stehen Menschen, bei denen Integrationsnachteile vermutet werden. Es handelt sich um Menschen, die meist sozial unterprivilegierten Schichten angehören. Die Integrationskonzepte werden zwar zunehmend von der Identitätsforderung entrümpelt, wie dies noch bei der Assimilations- und Multikulturalismusdebatte gang und gäbe war. Die Wahrnehmungsänderung findet aber vor allem gegenüber den Niedergelassenen statt, die jetzt als willkommene Mitbürger angeschaut werden.
Die Öffnung bezieht sich deshalb mehrheitlich auf Zugewanderte aus westeuropäischen Staaten und weniger auf Menschen aus den übrigen Ländern. Die symbolischen Grenzen haben sich verschoben: Die «Südländer», die vor nicht allzu langer Zeit zu den «kulturell Anderen» gehörten, geniessen heute breite Akzeptanz, während «Afrikaner», «Balkanesen» und «Muslime» oftmals starke Abwehrreflexe auslösen.
Diese Entwicklung führt zur Spaltung der Städte – einer Spaltung der Gesellschaft. Wir stehen vor einer Zunahme ganzer Schichten, denen es nicht mehr gelingt, sich auf demokratischem Wege Gehör zu verschaffen. Um eine Spaltung in der Bevölkerung zu verhindern, ist es wichtig, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner wirklich partizipieren – aktiv am politischen und gesellschaftlichen Geschehen teilhaben, denn andere können nicht für sie sprechen. BürgerInnenbeteiligung, demokratische Partizipation, die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, sind nicht nur für den Aufbau von Zugehörigkeit wichtig, sondern auch für den Erhalt des Systems an und für sich: Sie sind deren politische Legitimation.
Aber: Immer weniger Bewohnerinnen und Bewohner sind stimm- und wahlberechtigt. In Basel haben zurzeit nur 69% der Einwohnerinnen und Einwohner einen Schweizer Pass, also etwas mehr als zwei Drittel. Immer mehr ältere Menschen bestimmen über das Schicksal der Jüngeren. Um einen demografischen Ausgleich zu erzielen, reicht es nicht, die Stimmrechts-Altersgrenze um zwei Jahre zu senken: Es muss vor allem darum gehen, die 30% der Bewohnerinnen und Bewohner, die schon seit Jahrzehnten in unserer Stadt wohnen und Steuern bezahlen, am System zu beteiligen. Der Einbezug dieser Menschen ist wichtig. Verschiedene Gemeinden in der Westschweiz haben seit längerem, Neuenburg seit über 150 Jahren, Erfahrung mit der Stimmbeteiligung von Nicht-Schweizern. Ausländerinnen und Ausländer sind weder die fleissigeren Stimmenden, noch verteilen sie sich im Parteienspektrum wesentlich anders als ihre schweizerischen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Grundlegend ist jedoch, dass sie den Altersdurchschnitt der Stimm- und Wahlbevölkerung drastisch zu senken vermögen. Positiv ist nicht zuletzt auch der Integrationseffekt.
Prosperität, sozialer Friede und Zusammenhalt der Bevölkerung liegen vor allem in einem identitätsstiftenden politischen Verständnis. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, Lösungen und Wege zu finden, adäquate Partizipationsstrukturen zu adaptieren oder zu entwickeln. Dies liegt in unserem ureigenen Interesse.
Doch ist unser politisches System nicht nur durch den schwindenden Prozentsatz von Wahl- und Stimmberechtigten gefährdet, sondern auch durch die mangelnden staatsbürgerlichen Kenntnisse, welche die Mitglieder unserer Gesellschaft an den Tag legen. Kürzlich führte die Pädagogische Hochschule Bern eine Studie über das politische Wissen von Jugendlichen in den Kantonen Bern, Zürich und Aargau durch (5). 1500 Schülerinnen und Schüler wurden befragt. Die damit repräsentative Studie hat erschütternde Resultate zu Tage befördert: 70% der 15-Jährigen waren der Ansicht, der Bundesrat entscheide darüber, ob ein Referendum angenommen wird oder nicht. Nur 10% wussten, dass die Legislative auf nationaler Ebene «Vereinigte Bundesversammlung» und nicht «Tagsatzung» heisst. Für Basel sähe das Resultat wohl kaum anders aus. Ob jetzt der Staatskundeunterricht zu spät im Lehrplan verankert ist oder die Verantwortung einzig bei den Lehrkräften liegt, ist dabei irrelevant. Relevant sind sicherlich das Resultat und dessen Folgen, die Sie - so nehme ich an - aus eigener Erfahrung bestätigen können. Auch erwachsene Stimm- und Wahlberechtigte mit abgeschlossener Ausbildung stellen manchmal staatspolitische Fragen, die einen, gelinde gesagt, erstaunen.
Es ist an uns dafür zu sorgen, dass eine breite Öffentlichkeit wieder mit in die Diskussion einbezogen wird und vor allem die Jüngeren einen Zugang zum politischen System finden; sei es durch Vorbilder, sei es über die Schwerpunktsetzung im Lehrplan der Schulen, sei es über Finanzierung angemessener Programme und Lehrmittel.
Hiermit komme ich zum Schluss meiner Überlegungen über notwendige Veränderung im urbanen Kontext respektive der Umsetzung angemessener partizipativer Strukturen – in räumlicher, spezifisch städtischer und bildungspolitischer Hinsicht.
Erlauben Sie mir als Präsidentin noch ein paar Worte zum Gender-Aspekt und zur Partizipation in diesem Hause. Wie Sie auf meiner Einladungskarte zum Apéro heute Abend ersehen konnten, wurden im Zeitraum der ersten Verfassung des Kantons Basel-Stadt von 1875 bis 2006 fünf von 132 Präsidien von Frauen ausgeübt. Dies ergibt einen Anteil von 3,8% - was mir ein sehr bescheidenes Resultat zu sein scheint. Dies sind jedoch Tempi passati, wenn wir die Zahlen der neuen Verfassungsperiode zum Vergleich heranziehen. Heute schauen wir auf ein ausgewogenes 50 Prozent-Verhältnis zwischen Präsidenten und Präsidentinnen zurück. Ich kann nur sagen: weiter so! ...
... Und schliesse meine Ausführungen mit dem Wunsch, dass wir Politikerinnen und Politiker uns in unseren Entscheidungen etwas mehr von zukunftsgerichteten Ideen und Überlegungen leiten lassen und auch der langfristigen Planung unseres Kantons entsprechendes Gewicht beimessen. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind aufgerufen, mit Weitsicht unsere Verantwortung für die Zukunft Basels zu tragen.
Ich wünsche Ihnen beziehungsweise uns allen ein persönlich erfolgreiches und angeregtes Ratsjahr. In diesem Sinne erkläre ich das zweite Amtsjahr seit Inkrafttreten der neuen Verfassung von 2006 als eröffnet.
Erwähnte Berichte und Studien:
1 «State of the Worlds Cities 2006/07» ed. by UN-HABITAT 2006 2 «Riesen-Städte wuchern rasant» Spiegel-online-Bericht vom 11.7.2006
2 «Climate Change 2007» The IPCC 4th Assessment Report: www.ipcc.ch/
3 «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait», Hrsg. Diener et al./ ETH Studio Basel, Institut Stadt und Gegenwart. Bd. 1 - 4. Basel, 2006
4 Schlussbericht des Projektes «Geschichte und Politik im Unterricht» der Lehrerbildungsinstitutionen der Kantone BE, AG und ZH, Kooperation: Kanton und Universität Bern, LLB S1, Dr. Daniel Moser, Pädagogische Hochschule Aargau, Peter Gautschi, Universität Zürich, Pädagog. Institut, Prof. Dr. Kurt Reusser, Pädagogische Hochschule Zürich.